Tagebücher

Kleines Tagebuch aus der School for Life
Prof. em. Dr. Jürgen Zimmer

 

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14. Februar bis 15. März 2012

14. Februar

Wer in den Wald des Königs will, um die School for Life zu finden, biegt vom Highway, der von Chiang Mai nach Chiang Rai und weiter nach Mae Sai zur burmesischen Grenze führt, nach rechts ab. Nach einigen Hundert Metern kommt eine Kontrollstelle. Kontrolliert wird dort eigentlich niemand; es ist nur so, dass der Schlagbaum hochgezogen und ein Gruß ausgetauscht wird. Die schmale Straße führt an einem kleinen See vorbei, einem Wasserreservoir, dessen Spiegel je nach Jahreszeit steigt und fällt. Die Straße geht über einen unbefestigten Weg. Der Schlamm wird zur Regenzeit von den Rädern hochgeschleudert, während in der Trockenzeit je nach Tempo eine Staubfahne hinter dem Wagen hochsteigt.Das beste Gefährt in dieser Gegend ist ein Pickup. Man sieht Pickups mit Menschen­trauben vollgepackt, mit Kisten oder Ballen beladen, die meterhoch über die Fahrerkabine hinausragen, so dass ich in Kurven den Sicherheitsabstand vergrößere, weil mir bange ist, dass ein solches Wolkenkratzergefährt vor mir nicht nur wild schwankt, sondern auch umkippt. Noch abenteuerlicher beladen werden Motorbikes, leichte Motorräder, die jeden Autofahrer zwingen, immer wieder in die Seitenspiegel zu schauen: drei oder vier Personen auf einem Motorbike und noch ein Baby dazwischen geklemmt? „No problem!“ Irgendein Warenturm hinter dem Fahrer, den er mit dem einen Arm festhält, während er mit dem anderen Arm am Lenker Kurs zu halten sucht? „Also no problem!“Aber irgendwie gibt es doch ein Problem. Wenn zu den Grundthemen von Thai Popsongs „falling in love“, „broken heart“, „I’m open for someone“ auch „accident by motorbike“ gehört, dann ist damit Unglück im weiten wie im konkreten Sinn gemeint. Wir empfehlen Volontären, ihre Motorbikes defensiv zu fahren und auf das heiße Auspuffrohr zu achten, das schmerzhafte Verbrennungen am Unterschenkel verursachen kann.Auf der kleinen Straße durch den Wald des Königs ist es ruhig. Das Tempo verlang­samt sich. Ein Schild weist zur „School for Life“. Nach drei Kilometern eine Links­kurve. Die Farm mit dem Namen „Suan Suoi Fha Sai“ – „Lichter Himmel über schönem Garten“ – taucht auf. Kinder kommen gerannt, lachen, grüßen mit einem Wai, wollen das Gepäck tragen, und ich finde: Es ist alles noch so wie zuvor. Und ich fühle mich zu Hause.

15. Februar

Gegen 4:30 Uhr der erste Hahnenschrei. Kurz darauf setzt das kollektive Geheul der Hunde ein, obwohl kein Vollmond zu sehen ist. Es bricht, als hätte der Blitz einge­schlagen, unvermittelt ab. Ein „Kläff“ eines einzelnen Hundes hinterher zeigt keine Wirkung. Es ist wieder ruhig.

Um 6:00 Uhr wird die Tempelglocke geschlagen. Aufwachen! Der Morgen zieht herauf. Um 7:00 Uhr wird es lebhaft. Jedes Kind gehört zum „cleaning the campus“-Team. Die großen trocknen Blätter der Teakbäume werden aufgesammelt, die sich aufgehäufelt zur Pilzzucht verwenden lassen. Besen werden geschwungen, Stimm­gewirr und Kindergesänge aus allen Ecken des Campus.

Gegen 9:00 Uhr kommt Kru Ya angerannt, die als stellvertretende Schulleiterin schon viele Jahre dabei ist. Sie reibt sich die Arme und schüttelt sich. Sie hat eine Gänse­haut. Ich frage sie, ob ihr kalt ist. Nein. Es sei ein Geist im Schulbüro. Vor dem Fenster sei das schemenhafte Gesicht eines unbekannten Kindes erschienen. Alle dort anwesenden Lehrer hätten den Raum fluchtartig verlassen. Und in der Tat, alle sind im Freien. Ein Laptop wird gebracht. Auf dem Bildschirm ein Foto: Man sieht von hinten den Kopf und die Schulter einer am Tisch sitzenden Lehrerin und draußen an der Scheibe jenes undeutlich erkennbare Gesicht.

Inzwischen hat sich der Vorfall bei den Kindern herumgesprochen. Eine dichte Traube umringt den Laptop, der auf einem Tisch vor dem Farmhaus steht. Ich spreche mit Kru Ya darüber, dass in zwei Tagen eine Zeremonie vor den vier Geisterhäuschen geplant sei, die sich über das Gelände verteilen. Kru Ya sagt, sie habe den Geist selbst gesehen, nicht nur auf dem Foto.

Ein paar Stunden später kommt Kru Tomsri (‚Kru‘ bedeutet ‚Lehrerin‘) und gesteht den Lehrern, dieser Geist sei aus pädagogischen Gründen erschienen. Sie habe ihn in ihrem Laptop erzeugt und das Foto aus dem Büro so ergänzt, dass ein Geist zu sehen war. Sie habe den Kindern erklärt, dass sie auf Geister treffen würden, wenn sie weiter spätabends herumliefen, statt ins Bett zu gehen. Jetzt müssten die Lehrer die Kinder nicht mehr einfangen; sie würden brav ins Bett gehen. Das sei doch gut so, oder?

Kru Tomsri ist anders als westliche Eltern, die möglicherweise unfolgsamen Kindern androhen, der Knecht Ruprecht würde sie holen, woran sie aber selbst nicht glauben. Nein, Kru Tomsri glaubt fest an Geister, und alle anderen Erwachsenen tun das auch, bis auf einen, der an nichts dergleichen glaubt und ohne Geister, Engel, Buddha und die Wiedergeburt auskommen will.

16. Februar

Vor etwa sieben Jahren erschienen im „Kursbuch“ zwei vom Verlag gespendete Comic-Anzeigen. In der einen war ein Mensch im Raumanzug zu sehen und weiter hinten das gelandete Raumfahrzeug. Der Text lautete: „Tula Bpor-Wai installiert 2026 die ersten Solarzellen auf dem Mond. Tula Bpor-Wai ist eines von über 60 thailändischen Kindern der School for Life…“ In einer zweiten Anzeige war ein Mensch im Arztkittel mit einer Spritze in der Hand abgebildet. Der Text: „Darin Sri-ma entwickelt 2028 das erste Heilmittel gegen Morbus Parkinson. Darin Sri-ma ist eines der Kinder der School for Life…“ Der Text endet mit einer Empfehlung, das Projekt zu unterstützen. Auch wenn Tula keine Solarzellen auf dem Mond bauen und Darin auch nicht das Mittel gegen Morbus Parkinson erfinden wird, so drücken beide Comics im Kern doch aus, was wir wollen: Kinder aus dem Schatten der Gesellschaft heraus möglichst weit nach vorne bringen.

Heute kam Put, 19, aus Chiang Mai auf die Farm. Er sprach vor den Jugendlichen der 9. Klasse, die sich entscheiden müssen, ob sie in die Senior High School im nahege­legenen Doi Saket oder in ein Vocational College in Chiang Mai gehen oder etwas anderes machen wollen. Er, Put, habe einen Vorschlag: Sie könnten Pferdepfleger werden und entweder in einem Reitstall mit hochklassigen Pferden oder in einer Tierklinik oder in einem Poloclub arbeiten. Put zeigt Fotos anderer Absolventen der School for Life – zehn haben wie auch er die Ausbildung zum Pferdepfleger absol­viert und verdienen nach kurzer Zeit schon so viel wie Lehrer –, Fotos von edlen Pferden, vom Poloclub in Pattaya, Fotos, wie Pferde bandagiert, aufgezäumt und ausgeritten werden, Fotos von den Unterkünften und der Freizeit der Pferdepfleger – da ist zum Beispiel Angeln angesagt.

Put, der vor zwei Jahren mit der Ausbildung begann, leitet inzwischen das Projekt auf dem Gelände der Chiang Mai University. Er hat nun ein Stipendium erhalten, um sich in Deutschland im Marbach-Gestüt weiter ausbilden zu lassen und Hufschmied zu werden. Bei Turnier­pferden, und um die geht es in Thailand, ist das ein Beruf, der hohe Anforderungen stellt.

In Thailand ist die Nachfrage nach Pferdepflegern groß, und die School for Life ist in Zusammenarbeit mit der veterinärmedizinischen Fakultät der Chiang Mai University die einzige Ausbildungseinrichtung im ganzen Land. Mädchen werden genauso wie Jungen gesucht. Dominique Leutwiler, General Manager der School for Life, selbst eine passionierte Reiterin, hat das Projekt vor zwei Jahren auf den Weg gebracht. Und es ist ihr anzusehen, wie sehr sie sich über Put und Ott und über alle freut, die in diesem Beruf etwas aus sich machen wollen.

Ott, 18, war ein ‚bad boy‘, der stahl und ins Drogenmilieu abzudriften drohte. Er entwickelte sich nach seiner Ausbildung vom Pferdepfleger zum Polospieler. Der High-end-Poloclub von Pattaya schickt Ott – er ist ein begabter Reiter – für einige Monate nach Argentinien, um ihn zum professionellen Polospieler ausbilden zu lassen. Der Club plant, Ott später in der thailändischen Nationalmannschaft spielen zu lassen. Das sind ‚breaking news‘ für die School for Life! Vom ‚bad boy‘ zum Polospieler, der an internationalen Turnieren teilnehmen wird: eine Geschichte, wie wir sie uns in vielen Varianten wünschen.

19. Februar

In der Morgendämmerung bewegt sich eine kleine Prozession zu den vier Geister­häuschen. Jedes beherbergt die Seelen der Ahnen, die heute an einem Tag, an dem viele Geburtstage gefeiert werden sollen, mit Gaben bedacht werden: je zwei gekoch­te Hähnchen, Mandarinen, Mangos, Saft und Wasser sind auf den Veranden der Häuschen hergerichtet. Ich begleite – zu den Geburtstagskindern gehörend, für die gegen Abend eine Party veranstaltet werden soll – die Gruppe der Lehrer auf ihrem Rundgang. Kru Non, Lehrer für klassischen Thai-Tanz, ist der Zeremonienmeister. Vor jedem Häus­chen wird meditiert, Räucherstäbchen werden entzündet und in die Gaben gesteckt.

Die Wanderung über das Gelände zeigt die Fortschritte in organischer Landwirt­schaft: mehr Flächen, auf denen angebaut wird, und mehr Dorfleben, vor allem im unteren Teil des Geländes am Bach, in dem ein kleiner Damm das Wasser staut und Fische gezüchtet werden. In der Nähe grasen Wasserbüffel, und Somchart, der Farmer, hat seine Hütte in einen kleinen Bauernhof verwandelt. An einer kleinen Brücke, die über den Bach führt, wohnt Sampan mit seiner Frau. Sampan gehört zum Urgestein der School for Life in Chiang Mai, der Vorarbeiter des Bau- und Instand­haltungsteams, der 2005 nach dem Tsunami auf dem Gelände der späteren Beluga School for Life die ersten sanitären Anlagen baute, Stromleitungen und Wasserrohre verlegte und sich dort in Noan verliebte, die er heiratete und mit zurück in den Nor­den nahm.

Nach der vierten Zeremonie am vierten Geisterhäuschen drunten an der Brücke sagt Kru Non zu mir, es gäbe sechs und nicht nur vier, und nun würden wir zum fünften und sechsten Geisterhäuschen gehen. Ich erinnere mich an keine weiteren Häuschen und denke, es müsse sich um neue handeln. Wir laufen vom Bach im östlichen Teil des Geländes zurück bis zum Eingang, der sich hügelaufwärts im Westen befindet und bleiben vor dem Schulbüro stehen. Vor jenes Fenster, vor dem das geisterhafte Kindergesicht auf dem Bildschirm des Laptops von Kru Tomsri zu sehen ist, wird ein Schemel hingestellt und mit jenen Gaben bestückt, die auch den Seelen der anderen Geisterhäuschen gewidmet wurden, und es findet die gleiche Zeremonie statt. Zur Sicherheit wird ein zweiter Stuhl außen rechts vom Eingangstor samt Gaben für eine weitere Zeremonie hingestellt. Denn sicher ist sicher. Wer weiß schon, ob es den Tomsri’schen Geist, den Kru Ya auch ohne Computer zu sehen glaubte, nicht doch gibt. Jedenfalls sind die zwölf Lehrer der kleinen Prozession davon überzeugt. Und mich erinnert das an die Aussage eines Thais, er würde den School for Life-Kalender 2012, der Geisterbeschwörungen und Rituale ins Bild setzt, nie aufhängen, denn es könne ja sein, das die Geister aus den Bildern herauskämen und Unruhe stifteten.

Gegen 9:00 Uhr wird der große Raum im Farmhaus leergeräumt und der angrenzende Raum mit den Buddha-Statuen für den Besuch von fünf Mönchen hergerichtet. Geburtstag in Thailand bedeutet, weniger das Geburtstagskind zu feiern als vielmehr dessen Mutter zu ehren. Als sich alle Kinder im Raum versammelt und die Mönche sich niedergelassen haben, erinnere ich an diesen Brauch und erzähle von meiner Mutter. Sie wurde aus ihrer Familie ausgeschlossen, weil sie mit meinem Vater, der später in Russland fiel, nicht verheiratet war. Es hätte ja sein können, dass der Bruder meiner Mutter, Hauptmann und Fünfkämpfer in Vorbereitung auf die nicht mehr stattfindenden Olympischen Spiele von 1940, der alsbald in Frankreich fiel, unehren­haft aus der Wehrmacht entlassen worden wäre. Ich erzähle, dass wir nach dem Krieg in einem Schuppen ohne Strom und Wasser hausten und ich schimmliges Weißbrot, das die Besatzer weggeworfen hatten, sammelte, um die noch guten Stellen davon zu essen. Und ich berichte von den Wochen vor dem Tod meiner Mutter, in denen sie ein Konzert für den Frieden vorbereitete. Mit den Spenden, die bei diesem Konzert gesammelt wurden, haben wir die School for Life gegründet.

Der Gesang der Mönche, in den die Kinder einstimmen, das Weihnachtsfest, das thailändische Neujahrsfest Songkran, die Besuche von Tempeln, der Gottesdienst in einer kleinen Holzkirche in der Nähe, der Glaube an die Ahnen: Auf der Farm bilden sich ökumenische Amalgame aus Suchbewegungen, die zum Frieden zwischen den Religionen beitragen. Ich bin in Sympathie mit den Gläubigen und den sich kreuzenden Religionssplittern und Mythen und auch mit unseren Mönchen aus dem Tempel von Lamphun. Missionierungsversuche wehren wir ab, ob sie nun von buddhistisch gewandeten Betreibern eines „temple business“ oder von fundamental­christlichen Sekten kommen, die mit aggressivem Marketing den Armen den letzten Baht aus der Tasche holen.

Am späten Nachmittag beginnt das Fest auf jener Wiese, an deren Rand die thailän­dische Prinzessin Sirindhorn im Herbst des Jahres 2005 einen Baum gepflanzt hatte. Ein Buffet mit vielen Variationen der nordthailändischen Küche und dem Gemüse aus eigenem Anbau ist aufgebaut. Wasan, der Trommler, führt mit seinen Gefährten, die die Becken schlagen und sich in einem wilden Tanz verausgaben, die „Drums of Victory“ vor. Es folgen Vorführungen von alten und modernen Tänzen und als Höhe­punkt – es ist dunkel geworden – der Candlelight Dance von zwanzig Mädchen, die mit ihren Kerzen Figuren in die Nacht malen, ein Bild der Einheit in der Vielfalt.

Zum Ende dieses Abends wird ein großer, in viele Teile geschnittener Kuchen ver­speist; er reicht für alle. Dann wird aufgeräumt. Jeder weiß, was er zu tun hat. Ich nehme eine in ihrer oberen Hälfte kunstvoll geschnitzte Melone mit. Aimee hat sie geschnitzt, die sich dafür bedanken will, dass sie für viele Jahre in der School for Life leben und lernen durfte.

21. Februar

Anruf von Guillaume Amigues vom World Economic Forum in Genf. Man sei am Konzept der School for Life und an „entrepreneurship education“ interessiert. In Istanbul finde im Juni ein Regionaltreffen statt, und das sei eine gute Gelegenheit, das Konzept vorzustellen. 750 Millionen Jugendliche weltweit seien arbeitslos, und dies sei eine große Herausforderung für den öffentlichen und den privaten Sektor. Ich verabrede mich mit meinem Kollegen und Freund Günter Faltin – wir schrieben vor fast zwanzig Jahren das Buch „Reichtum von unten“, damals ein Frühzünder in Sachen Entrepreneurship ‑, der gerade in Chiang Mai ist: Wir werden ein gemeinsames Dossier für das World Economic Forum entwerfen.

22. Februar

Professor Apichai Puntasen, Doyen der buddhistischen Ökonomie, zuletzt Dekan an der Ubon Ratchathanee University im Isan, Thailands ärmster Gegend, hat eine Stu­dentin geschickt. Sie heißt Thip und studiert „Self-sufficiency Economy“, ein Kon­zept des thailändischen Königs. Es ist die Philosophie vom unabhängigen Überleben in Krisenzeiten, wie sie Thailand zum Beispiel 1997 erlebte, als die Währung über Nacht in den Keller fiel. Apichai (Thais reden sich mit dem Vornamen an) ist Mit­glied im Vorstand der School for Life Foundation und ein Freund und Weggefährte seit dreißig Jahren.

Thip spezialisiert sich auf organische Landwirtschaft und hat eine Frosch- und eine Pilzzucht angelegt. Es ist ein Pilotprojekt, um Erfahrungen zu sammeln. Die Pilze wachsen in einem Gemisch von Stroh und Schnipseln aus Bananenstauden, das wie ein kleiner Erdwall errichtet, erst mit einer Plastikhülle und zusätzlich mit Stroh­bündeln abgedeckt wird – Pilze wollen es offenbar sehr warm haben.

23. Februar

Den größten Lärm im Unterricht verursacht eine pensionierte deutsche Lehrerin, Angela Grossmass, die seit zwei Monaten pro bono Englisch – ja was? – unterrichtet? Nicht doch: mit äußerster Dramatik, mit Musik und Rhythmus Englisch in Fleisch und Blut übergehen lässt. Die Kinder machen mit vollem Einsatz mit, um danach – weil sie sich nicht nur mental, sondern körperlich verausgabt haben, am liebsten in Tiefschlaf zu verfallen. Einige tun das auch.

Heute sind die menschlichen Körperteile an der Reihe. Die Zweitklässler geraten in eine Choreographie, die man „außer Atem“ betiteln könnte. Da wird gesprungen, mit Armen gerudert, Beine werden im rhythmischen Auf und Ab so hoch geschwungen, als wollte die Truppe im Berliner Friedrichstadtpalast auftreten, zugleich werden die Körperteile vom Kopf bis zu den Zehen ersungen, und dieses Gemisch aus lauten Gesängen, Gehopse, Gelächter und Ratereien, wie dieser oder jener Körperteil nun eigentlich heißt, ist der beste Englischunterricht, der mir unter die Augen gekommen ist. Ein bisschen erinnert er mich an den Französischunterricht 1948 in der früheren Raubritterburg Hohenfels im einsamen Hinterland des westlichen Bodensees, die die Unterstufe von Salem beherbergte. Wenn Fräulein Köppen uns Sextanern den Unterschied zwischen „unter“ und „auf“ erklären wollte, kroch sie unter den Tisch oder kletterte auf ihn, und wir bekamen eine Rosine, wenn wir die richtige Antwort geben konnten.

Angela Grossmass ist der rundum überzeugende Kontrast zu einem meiner Englisch­lehrer, der in der Untersekunda regelmäßig unvorbereitet zum Dienst erschien, uns eine Seite im Englischbuch aufschlagen und ein paar Abschnitte lesen ließ, um sie dann anschließend – die Bücher waren wieder zugeklappt – zu diktieren. Woche um Woche, Englisch zum Abgewöhnen.

24. Februar

Kru Tomsri, die Lehrerin, hat ihr kleines Holzhaus in einen Zoo mit Hamstern und Meerschweinchen verwandelt und einen Tag um Tag größer werdenden Gemüsegar­ten angelegt. Sie lädt jedermann ein, sich von ihr mit Salat und Gemüse versorgen zu lassen. Die Kinder lieben den Zoo, kommen immer mal wieder vorbei und schauen den Tieren zu.

Nebenan ist Siriporn, die Schulleiterin, mit der Erweiterung ihres Gartens befasst. Setzlinge werden gezogen, und um die Stämme der Teakbäume ranken sich Bohnen. Bei beiden, Tomsri und Siriporn, machen Kinder mit, hacken den trockenen Boden auf, mischen ihn mit organischem Dünger, wässern ihn, decken die Beete mit Stroh ab und beobachten, wie die Pflanzen wachsen.

Nach und nach werden alle noch nicht genutzten Campusflächen (40 Rai = 6,5 Hektar) in Gemüsefelder und Obstplantagen verwandelt. „Self-sufficiency Economy“ die Philosophie des Königs und Pioniers der organischen Landwirtschaft, erinnert mich an das Konzept des Julius Nyerere, des großen Staatsmannes und Visionärs in Tanzania in den sechziger Jahren: Er nannte es „self-reliance“, das Vertrauen auf die eigene Kraft; er wollte es in den Ujamaa-Dörfern umsetzen und Schulen in Commu­nity Development einbinden. Seine Bürokraten leisteten zähen Widerstand und überlebten ihn.

25. Februar

Ankunft von dreißig Jungen und Mädchen einer International School aus Bangla­deshis. Sie helfen bei der Renovierung von Häusern. Farben und Pinsel bringen sie mit, und die Kinder der School for Life erleben einmal mehr, aus wieviel Nationen sich die Schülerschaft einer solchen Schule zusammensetzt.

Die International School aus Bangladesch ist nicht die einzige, die den Weg zur School for Life gefunden hat. Die International Schools von Stavanger in Norwegen und Düsseldorf kommen alljährlich – sofern nicht gerade die „Yellow Shirts“ den Flughafen besetzen, die „Red Shirts“ die Innenstadt von Bangkok in Beschlag nehmen oder Überschwemmungen halb Thailand unter Wasser setzen. Wir, im königlichen Wald auf den Hügeln des Doi Saket, sind weit weg von solchen Ereig­nissen, und niemand muss sich um seine Sicherheit sorgen.

Jedesmal, wenn eine Schülerschar nach zwei oder drei Wochen wieder abreist – die Bangladeshis bilden mit einem zweitägigen Aufenthalt eine Ausnahme – fließen Tränen auf beiden Seiten. Über die sozialen Netzwerke immerhin können die Verbindungen aufrechterhalten werden.

27. Februar

Lutz Buschhüter, graduierter Sozialpädagoge, der seit mehr als einem Jahrzehnt in Chiang Mai lebt und hier verheiratet ist, kommt, um sich mit zwei deutschen Jugendlichen und ihrem türkischen Betreuer Onursal zu treffen. Die beiden Jungen befinden sich in der letzten Phase eines auf zweieinhalb Jahre angelegten Programms des Jugendhilfswerks Par-ce-val in Berlin-Brandenburg. Dort werden Jugendliche ‚at risk‘, die, wenn man so will, in Richtung Delinquenz fast aus der Kurve geflogen sind, zurückgeholt.

Mit Haci Bayram, dem Leiter von Par-ce-val, hatte ich mich zuvor in Berlin getroffen, um den dreimonatigen Aufenthalt der Jugendlichen in der School for Life vorzube­reiten. Mir war Bayrams Idee, Jugendliche in einem ganz anderen sozialen und kul­turellen Setting Erfahrungen sammeln zu lassen, nicht fremd. Die High Seas High School, die mit Schülern und Schülerinnen der 10. oder 11. Klasse monatelang über die Weltmeere segelt, ist ein prägnantes Beispiel dafür, Jugendliche nicht zu domesti­zieren, sondern herauszufordern. Wir hatten in der School for Life Volontäre, die ihren Aufenthalt als Wendepunkt erlebten: einen Abiturienten zum Beispiel, der vor dem Reiseantritt seiner Mutter erklärt hatte, nichts mehr mit ihr zu tun haben zu wollen und nach seiner Rückkehr zu seiner Mutter sagte, jetzt wisse er, was sie für ihn bedeute und ein neues herzliches Verhältnis zu ihr entwickelte; oder die Sech­zehnjährige, die in die Szene ihrer Stadt abgedriftet war, die Schule zunehmend geschwänzt hatte und keinen Sinn mehr im Leben entdecken konnte, und die nach ihrer Rückkehr mit dem Rauchen und Trinken , mit Drogen und Schulschwänzerei aufhörte und sich konzentriert auf ihr Abitur vorbereitete. Ihre Geschichte ist in „Polly on the Rocks“ verfilmt worden.

Vor ihrer Abreise besprechen die beiden Jugendlichen und Onursal mit mir, was in den drei Monaten gut lief, was wir beim nächsten Aufenthalt von Par-ce-val-Jugend­lichen besser machen können, und warum sie sich fast zu wohlgefühlt haben. Denn zum Kern des Rehabilitationsprogramms von Par-ce-val gehören Strenge und Struk­turiertheit der Organisation des Lebens der Jugendlichen. Einer der beiden hat ein unter die Haut gehendes Video-Portrait von Namson gedreht, deren Mutter zu 24 Jahren verurteilt, noch 16 Jahre im Gefängnis von Chiang Mai absitzen muss. In der Reportage „Gefängnisbesuch“ ist die Geschichte von Namsons Mutter nachzulesen.

28. Februar

Der Abt des Tempels von Lamphun, Monkon, ist seit vielen Jahren ein Freund der School for Life. Wenn Menschen zu ihm kommen und sagen, sie wollten aus dem einen oder anderen Grund etwas opfern, dann regt er sie an, 5.000 Baht (125 €) zu geben, womit er ein Mittagessen in der School for Life finanzieren könne. Die Spen­der könnten vorher nach Anweisung des Abtes alles kochen, dann mitnehmen und mit den Kindern zusammen essen. Die Suppe des Abtes ist bei den Kindern berühmt. Sie schmeckt ungewöhnlich gut. Der Abt und die Besucher, die er mitbringt, staunen, wieviel die Kinder verspeisen können.

Heute feiert er seinen 60. Geburtstag bei uns. Seine Mönche und fünfzig Verwandte und Bekannte hat er mitgebracht. In der Kantine, einem offenen überdachten Raum, versammeln sich alle zum Festmahl. Es ist der späte Vormittag. Nach 12 Uhr mittags gibt es für Mönche nichts mehr zu essen.

29. Februar

Im großen Raum des Farmhauses liegen auf dem Boden große Blätter, die von vielen kleinen umrahmt werden. Auf den Großen sind die Namen der sieben Centers of Excellence ‚under the tree‘ verzeichnet (im Unterschied zur Hanseatic – früher Beluga – School for Life hat die School for Life keine Gebäude dafür), und auf den bunten Zetteln stehen die Namen von Projekten, Mini Enterprises und sonstigen Aktivitäten, die den Centers zugeordnet werden. Die Schul- und die Familienlehrer (die Mentoren) haben sich versammelt, um das nächste Semester zu planen, das von Mai bis September dauern wird.

Zum Center for Organic Farming gehören beispielsweise die Projekte „fish farming“, „frog farming“, „mushrooms“, „composting“, „herbal gardening“, „animal husbandry“ und „planting vegetables & fruits“.

Dem Center for Culture Sensitive Tourism sind „be a little guide“, „restaurant management team“, „where do I come from“, „soul trekking“, oder „the forest as a supermarket“ zugeordnet.

„Bakery“, „cooking Thai food“, „cooking international food“ oder „cooking with guests“ sind Aktivitäten ‚under the tree‘ des Center for Nutrition & Health.

Besonders viele kleine Zettel umranden das Blatt mit dem Center for Cultural Heritage & Development: „Thai & contemporary dance“, „Thai music“, „world music“, „classical European music“, „Jazz dance“, „local wisdom“, „ethnic fashion“, „painting“, „fresh flower fashion“, „teaching Buddhism“, „teaching Christianity“, „comparative understanding of world religions“, „performance program develop­ment“, „teaching the culture of indigenous people“.

Auch das Center for Body and Soul versammelt viele Zettel um sich: „Yoga & Thai massage“, „football for girls“, „football for boys“, „swimming“, „martial arts for girls“, „Thai boxing“, „basket ball“, „morning exercise“, „meditation“.

„Children’s World Radio“, „soft & hardware introduction“, „cinema club“, „children’s journal“ und „white board“ (ein großflächiges digitales Fenster zur Welt des Inter­nets) gehören zum Center for International Communication. Und zum Center for Technology, Crafts & Ecology gehören die Zettel „maintenance“, „keep the campus clean“ und „bicycle repair shop“.

Weil nun nicht alles den Centers zugeordnet werden kann, liegt da noch ein Blatt mit dem Titel „Other Essential Activities“, und das wird eingekreist von „children’s investment bank“, „community shop“, „mediation“, „morning ceremony“, „family day“, „children’s parliament“, „guardian angels“, „night guardians“ und „holiday activities“.

Gegen 18:00 Uhr wird es langsam dunkel. Die Lehrer diskutieren immer noch. Erste Teams bilden sich. Nicht alle Zettel werden sich in Projekte oder Mini Enterprises verwan­deln. Wir werden Schwerpunkte setzen. Einer, darüber sind sich alle einige, wird „organic farming“ und „animal husbandry“ sein. Dem Ziel einer „self-sufficiency economy“ sind viele Hürden vorangestellt. Der Situationsansatz, das den Schools for Life zugrunde liegende Konzept, favorisiert ein Lernen in herausfordernden Realsi­tuationen. Auf dem Campus muss man nicht lange nach ihnen suchen. Man stolpert geradezu über sie.

1.März

Wie an jedem Schultag wird die Tempelglocke morgens um 8:00 Uhr von einem Kind mit einem Metallstab geschlagen. Einigen einzelnen Schlägen folgt ein Stakkato, das wiederum in einzelne Schläge mündet. Nun versammeln sich alle auf einem Platz vor der Aula. Dort wird gleich die thailändische Fahne gehisst und die Nationalhymne gesungen. Der ziemlich hohe Aluminiummast ist oben mit einer Rolle versehen, durch die die Schnur läuft. Noch hängt die Fahne unten. Heute sind es zwei Sechsjährige, die die Fahne hochziehen. Der Schulsprecher und Master of Ceremony setzt mit dem Gesang ein, und alle singen mit. Je nachdem, wie hoch oder tief der Vorsänger intoniert, suchen sich die Kinder irgendeine Tonlage aus, die ihnen genehm ist. Darius Milhaud hätte seine Freude an diesem polyphonen Gesang gehabt, den alle irgendwie als selbstverständlich nehmen.

Das Mädchen und der Junge versuchen, die Fahne so langsam hochzuziehen, dass sie erst mit dem Ende der Nationalhymne oben ankommt. Die Rolle quietscht, einige Hunde geraten in Streit und jagen zwischen den Kindern hin und her, und als die Hymne beendet ist, fehlen noch ein paar Meter Fahnenstange, so dass die beiden Kinder die Fahne jetzt so rasch nach oben ziehen, als sollte sie wie eine Rakete davonfliegen.

Und nun folgt ein Sprechgesang im Wechsel, ähnlich wie bei den Zeremonien der Mönche. Dann wird es still. Die Kinder meditieren, und auch die Hunde haben sich beruhigt und liegen im Schatten. Oft wird das Lied der School for Life gesungen. Es beginnt mit „School for Life our home, our school …“ und endet mit „I have brothers, sisters and friends“.

Noch stehen die Kinder in sechs oder sieben Reihen, links die Kleinen, rechts die Großen, den Blick Richtung Fahne gerichtet. Aber nun wenden sich die Kinder der ersten Reihe denen der zweiten Reihe zu, und beide Reihen begrüßen sich mit einem Wai und „Sawasdee“. Die Kinder der zweiten und der dritten Reihe begrüßen sich, dann die der dritten und vierten Reihe. Und so wird der Gruß weitergeleitet, bis sich alle begrüßt haben. Zum Schluss grüßen die Kinder die Lehrer, die Volontäre und oft auch die Gäste.

Danach bilden sie große Kreise und es beginnt ein meditativer Tanz in sehr langsa­men Bewegungen, die himmelwärts weisen oder der Erde zugewandt sind. Hier löst sich das anfangs strikte Zeremoniell auf in ein sanftes, friedvolles Miteinander.

Ich habe früher wenig von Ritualen gehalten. Heute denke ich darüber anders. Sie bieten Strukturen in einem durch biographische Katastrophen überschatteten Leben. Die Kinder der School for Life lieben Rituale.

2.März

Die School for Life ist mehr als eine Schule. Der schulische Kern, sozusagen der amtliche Teil, besteht aus einer staatlich anerkannten Social Welfare School. Der steht ein ‚School Board‘ vor, so wie der School for Life insgesamt das ‚Board of the School for Life Foundation‘ vorsteht. In beiden Gremien bilden Thais die Mehrheit.

Heute trifft sich das School Board. Ihm gehören unter anderem der Vertreter der obersten Schulauf­sichtsbehörde für Privatschulen an, der Bürgermeister eines Gemeindeverbandes, die Vertreterin des königlichen Forstprojektes, ein Rechtsanwalt aus dem nahegelegenen Dorf Pongkum, die Schulleiterin und ihre Stellvertreterin sowie ein Familienlehrer anstelle der abwesenden oder nicht existierenden Eltern der Kinder.

Zwei Themen bestimmen die Diskussion dieses Morgens. Erstens: Wie lassen sich Brücken zwischen dem nationalen Lehrplan und den Projekten und Mini Enterprises bauen, wie kann man Fächer plündern, um einen Teil ihrer Inhalte in neuem fach­übergreifendem Zuschnitt in die Centers of Excellence zu verlagern? Auf dem Kon­ferenztisch in der Schulbibliothek liegen die sieben Blätter mit den Namen der Centers und die vielen kleinen Zettel. Wir diskutieren mit dem Schulaufsichtsbeam­ten die Art und Weise, wie man zum Beispiel von 120 Pflichtstunden Mathematik die Hälfte oder auch mehr verlagern kann und sie gleichwohl zählen, also anerkannt und bewertet werden können. In thailändischen Schulen, sagt der Schulaufsichtsbeamte, sei ein so dynamisches Modell, das auf die Anwendung des Wissens in realen Situa­tionen setze, leider noch nicht angekommen. Die Kinder würden in Klassenzimmern gehalten und seien den langen Reden der Lehrer ausgesetzt. Sie würden Stoff aus­wendig lernen und hinterher wieder vergessen.

Zweitens: Die Regierung hat das Mindestgehalt von Lehrern von 8.000 auf 15.000 THB (200/375 €) heraufgesetzt. Bezuschusst wird in der Grundschule ein Lehrer auf 25 Kinder, in der Junior High School ein Lehrer auf 20 Kinder. Demnach wird die School for Life den Zuschuss lediglich für fünf Lehrer bekommen. Wir haben aber 12 Lehrer, weil nach dem Schulgesetz jede Klasse einen Lehrer haben muss. Der Kin­dergarten zählt mit drei Klassen für die Drei-, Vier- und Fünfjährigen und arbeitet nach den patinierten Vorstellungen des Bildungsministeriums altershomogen (wir nicht). Die Grundschule mit den Klassen eins bis sechs und die Junior High School mit den Klassen sieben bis neun brauchen pro Klasse ebenfalls eine Lehrkraft. Wür­den wir nur fünf Lehrer einstellen, würden wir die Lizenz verlieren. Also wird es in Zukunft fünf bezuschusste und sieben Lehrer ohne Zuschuss geben. Zuvor bekamen alle zwölf Lehrer staatliche Zuschüsse. Für uns ein bildungspolitisches Vor und Zurück.

5. März

Ankunft von Lena Grüber. Lena, 26, studiert in Berlin-Weissensee Kunst im öffent­lichen Raum. Nebenbei hilft sie in der Redaktion „Betrifft Kinder“ und im „verlag das netz“. Ihre Mutter Eva Grüber hat sich nach der Wende selbständig gemacht und Journale und Bücher herausgegeben, die mit pädagogischen Betulichkeiten aufräu­men und Kinder als Entdecker, Experimentatoren und Konstrukteure ihres eigenen Lebens verstehen. Kein pädagogischer „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) entgeht den redaktionellen Argusaugen.

Die Zeitschrift „Betrifft Kinder“ ist ein Fan der School for Life, und Lena mit ihrer großen Analog-Kamera ist es auch. Sie sagt, analoge Fotos zu schießen, verlange mehr Nachdenken und ein genaueres Abpassen des richtigen Moments. Aber das Problem von Dokumentarfilmern und –fotografen ist eben, dass manche Situationen blitzschnell vorbei sind und sich nicht wiederholen lassen. Also müssen sie irgendwie erahnen, was geschehen könnte, und Lena wird in den nächsten drei Tagen versu­chen, solche Momente zu erwischen.

Am Nachmittag versammeln sich wieder die Lehrer. Sie bilden drei Gruppen zu drei Themen.

Erstens: ‚Mind Mapping‘ im Zusammenhang mit dem Projekt „fish farming“. Wenn in einem solchen Projekt Seitenwege eingeschlagen werden, sind das keine Irrwege, sondern Chancen für ein entdeckendes Lernen. Es werden vor allem von den Kindern selbst Landkarten entworfen mit Stationen des besonderen Lerninteresses. Da das Projekt „fish farming“ nicht acht Stunden am Tag in Anspruch nimmt, besteht jede Menge Gelegenheit dazu.

Und so tauchen Fragen auf und wollen forschend und experimentierend geklärt werden, wie: Können Fische schlafen? Warum gehen sie nicht unter? Brauchen sie keine Luft? Fische schweben im Wasser, Steine nicht, Holz schwimmt – warum? Warum sinkt ein Stein in Öl langsamer als im Wasser? Steine sinken und Fische schweben im Wasser – wieso? Warum können Vögel und Schmetterlinge fliegen? Können sie auch abstürzen? Flugzeuge fliegen auch, wie denn? Warum stürzen die manchmal ab, warum segeln sie nicht zu Boden, obwohl sie doch Flügel haben? Wie fliegen Raketen? Und wenn Fische Hunger bekommen, was fressen sie? Wie kriegen sie Babys? Legen sie Eier wie Vögel? Schwimmen die Eier nicht weg? Warum legen Menschen keine Eier? Was ist überhaupt ein Ei? Wenn wir die Fische nicht essen, sondern verkaufen wollen, wo denn und zu welchem Preis? Warum nur 20 Baht für einen Fisch und nicht 200? Geld kann man doch einfach so bekommen, wenn man eine Karte in eine Maschine steckt und Knöpfe drückt … und so weiter.

Zweitens: P:lanung einer mehrtägigen Exkursion mit Kindern und Gästen zu den Dörfern, aus denen die Kinder kommen. Das Projekt heißt „where do I come from“. Auf Wegen jenseits touristischer Trampelpfade werden die Gäste die Alltagskultur der Thais und der ethnischen Minderheiten kennenlernen und Freundschaften schließen.

Drittens: „Local wisdom“. Was wissen die Alten, und was wissen die Jungen nicht mehr? Wen können die Kinder fragen, und wie lassen sich die Erkenntnisse doku­mentieren? Die Idee dazu stammt von Eliot Wigginton (USA), der 1966 als junger Lehrer begann, mit seinen Schülern Geschichten von alten Menschen zu sammeln. Das geschah in den Appalachians und war die Konsequenz aus der Einsicht Wigginton’s, dass er mit den Methoden, die er zuvor auf der Universität gelernt hatte, bei den Schülern fast nichts bewirkte. „The Foxfire Book“, in mehreren Bänden in Millionenauflage verkauft, war das Ergebnis der Recherchen der Jugendlichen und ihres Lehrers. Viele, viele Leser wollten wissen, wie man ein Blockhaus oder einen Kamin aus Felsbrocken baut, wie man eine Kaninchenfalle konstruiert oder die Borsten von einem geschlachteten Schwein gewinnt, wie ein selbstgebasteltes Banjo aussieht oder ein Räucherofen beschaffen sein muss.

Die Lehrer dieser Gruppe wollen mit den Kindern im weiteren Umkreis der School for Life die weisen alten Menschen finden und zuerst in Erfahrung bringen, wie man ein mit trockenen Blättern gedecktes Bambushaus baut; sie wollen es nicht nur wis­sen, sondern zusammen mit den Kindern auch bauen, eins zu eins, nicht als verklei­nertes Modell.

6. März

Die Step Stiftung in Freiburg hat die Sportanlagen finanziert, darunter ein großes Fußballfeld und einen Basketballplatz. Um 17:00 Uhr ist Fußball für Mädchen ange­sagt – auf dem Basketballplatz, denn das mit Gras bewachsene Fußballfeld flimmert noch in der Hitze, und die Laufwege sind dann doch sehr lang. Zwei kleine Tore stehen unter den Körben, und nun wird gedribbelt und geschossen und geschrien und gelacht, und eine kleine Pause tritt immer dann ein, wenn der Ball, von keinem Zaun gehalten, in den umliegenden Weiten verschwindet und erst zurückgeholt werden muss. Die Lehrerin Dim, die mit ihrer Statur und Schusskraft ein wenig an den legen­dären ‚Bomber Müller‘ vom FC Bayern erinnert, hat vor sieben Jahren in der ersten Frauenfußball-Mannschaft von Chiang Mai gespielt. Ihre Stelle wird von der Freibur­ger Stiftung finanziert, und so haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, mit den Zehn- bis Zwölfjährigen ein richtiges Team zu bilden.

Auf der Wunschliste stehen auch ‚Martial Arts‘ für Mädchen. Keine ‚full contact‘-Kampfsportarten, sondern eher tänzerische wie das Pencak Silat Indonesiens oder die brasilianische Capoeira. Ziel ist die Förderung des Selbstvertrauens der Mädchen am Beispiel eines Kampfsports, der in ein tänzerisches Ritual mit hoher Körperbeherr­schung verwandelt werden kann.

7. März

Ein abendlicher Ausflug zum abseits gelegenen Wang Tarn Restaurant mit Trirat Petchsingh, dem Diplomatensohn, Ingenieur, Gründer einer Computerschule, Lehrer an einer Eliteschule in der Nähe Bangkoks, in verschiedenen Ländern aufgewachsen, Trirat, der Englisch besser kann als Thai und sich auf einer Website kritisch mit dem Buddhismus auseinandersetzt, Trirat, der Journalist bei „Reuters“ und „The Nation“, Autor des Buchs „Thai Mangos“ mit Kurzgeschichten, Trirat also wird uns verlassen. Er, für „education innovation“ zuständig, konnte die Lehrer nicht hinter sich versam­meln. Er kommt aus einer ganz anderen Welt. Ich schätze seine Ehrlichkeit, seinen Einsatz die Kinder, seine Bildung, sein Faible für ein experimentierfreudiges natur­wissenschaftliches Lernen, und ich beobachte die Michael Kohlhaas’sche Unerbitt­lichkeit, mit der er sich in Konflikte stürzt und sich Gegner schafft. Er sagt, er sei nicht der richtige Mann für diese Aufgabe. Wir finden das beide. Und so sind wir freundschaftlich einer Meinung, dass er in den Ruhestand wechseln und sich um seine Töchter und deren Unternehmen kümmern soll und wird.

Trirat wird abgelöst von einer Doppelspitze: Manoon Kalapat, zuvor Direktor des Hotel Training Institute der Beluga (jetzt Hanseatic) School for Life, ein freundlicher, erfahrener Leiter von Hotel Management Schools und Hotels, der fließend Englisch spricht und in der School for Life einige Monate zuvor als Ground Manager und Leiter des Gästebereichs zu arbeiten begonnen hat. Er wird nun auch für die Um­setzung und Weiterentwicklung des pädagogischen Konzepts mitverantwortlich sein.

Die andere Person heißt Dr. Chanmongkol Trisri. Zuvor kannten ihn alle unter dem Namen Charlniwat. Seinen Namen hat er gewechselt, weil Chanmongkol ‚langes Leben‘ bedeutet und das wichtiger wird, je mehr Jahre man zählt. Er war fünf Jahre lang Leiter des Center for Organic Farming der Beluga School for Life und ein von den Gästen sehr geschätzter Geschichtenerzähler und Führer durch den Dschungel. Chanmongkol will nun im Norden weiterarbeiten. Sein siebzehnjähriger Sohn studiert im zwei Autostunden entfernten Chiang Rai und freut sich, dass er seinen Vater öfter sehen wird.

Chanmongkol wird in der School for Life als „Director for Organic Farming & Animal Husbandry“ arbeiten und mit dafür sorgen, dass wir nicht nur dem Ziel landwirtschaftlicher Selbstversorgung näher kommen, sondern durch den Anbau hochpreisiger Produkte wie der Cantaloup-Melonen oder der „out-of-season“-Limetten Mittel erwirtschaften. Beraten werden wir dabei von Ex-Senator Mechai, der vor vielen Jahren eine landesweit erfolgreiche Anti-Aids-Aufklärungskampagne organisierte und seither den Spitznamen „Mr. Condom“ trägt.

Zu den Kabinettstückchen von Chanmongkol gehört die Einrichtung einer Schweine­zucht in China mit Schweinen, die nicht stinken. Das war eine Sensation für alle Beteiligten. Denn zuvor hatte es heftigen Streit mit den Besitzern nahegelegener Hotels und den Schweinezüchtern wegen der Gerüche gegeben. Als Chanmongkol das Problem gelöst hatte, waren die Hotelbesitzer so froh, dass sie zu Anteilseignern der Schweinezuchtbetriebe wurden.

Chanmongkol hat auch landwirtschaftliche Betriebe in Israel beraten. Er weiß, wie man Schlangen mit Mungos vertreibt und Katzenfische mit einem toten Hund füttern kann, den sie in sechs Stunden bis auf die Knochen verputzen. Er reitet, und wenn er sich einen Hut aufsetzt, sieht er aus wie der Bruder von Charles Bronson. Wir werden geruchsfreie Schweine züchten, und wenn mecklenburgische Schweinezüchter wis­sen wollen, wie sie den Protesten von Bürgern umliegender Gemeinden entgehen können, wird Chanmongkol in Seminaren seine Geheimnisse dann verraten, wenn sie gutes Geld für die School for Life zahlen.

Aber heute hat er ein anderes Problem: Vor einiger Zeit wurde auf Initiative von Trirat der Bach im unteren Teil des Geländes auf einer Länge von etwa zwanzig Metern so ausgebaggert, dass dort Fische gezüchtet werden können. Viele kleine Fische wurden in mehreren Quadratmetern großen Netzkörben ausgesetzt. Nun sind sie größer geworden, und weil die Netzkonstrukteure die Intelligenz der Fische unterschätzt haben, hat Chanmongkol gesehen, wie die Fische mit einem eleganten Sprung die Netzkanten überwinden und das Weite suchen. Kein unlösbares Problem, aber eines von vielen beim „fish farming“.

8. März

Chalee was here. Schulinspektor, -evaluator und Spezialist für Lehrertraining, dessen Arbeitsorte sich über weite Teile Thailands erstrecken. Er findet, dass das Konzept der School for Life, genauer: die Verbindung von nationalem Lehrplan mit den Cen­ters of Excellence, für jede Schule gut sei. Chalee trainiert heute die Junglehrer, wie sie zum einen die Brücken von Fächern zu den Centers schlagen und zum anderen die unvermeidlichen „credit points“ auch jenseits des Fachunterrichts vergeben können. Chalee liebt Bewegung, er ist ein Entertainer, und hasst Klassenzimmer. Das Seminar findet deshalb draußen statt.

Im Prinzip geht es zu wie in einer guten Küche: Man nehme die Elemente aus verschiedenen Fächern, mische sie innerhalb eines Projektes und behandle diese Fusion nicht als inoffizielles Gebräu, sondern als moderne Version eines zuvor antik strukturierten Lehrplans. Ja, ungefähr so. Die „credit points“ sind dann der Stempel der Anerkennung.

Ich kann mir zwar ein Lernen ganz ohne „credit points“ vorstellen, und es ist auch nicht so, dass ich ein Anhänger dieses dynamisierten Bürokratismus bin, aber ich sehe ein, dass wir auf diese Weise vernünftige Dinge tun können, ohne die schulische Anerkennung der Anstrengungen unserer Kinder zu riskieren. Chalee sei Dank.

9. März

Die 1787 in Berlin geborene Emma Hart, die nach ihrer Auswanderung Dr. John Willard heiratete, Emma Willard also, setzte sich 1819 in einem Schreiben an das Repräsentantenhaus von Vermont für die Bildung von Frauen ein, sie schrieb eine Art „Magna Charta for Higher Education of Women in America“. 1819 eröffnete sie eine Mädchenschule, die heutige Emma Willard School im Bundesstaat New York.

Am 9. März 2012 gegen 9:30 Uhr erreichen zwei Minibusse das Tor der School for Life. Etwa zwanzig Mädchen der Emma Willard School, ein Club temperamentvoller Vierzehn- bis Fünfzehnjähriger, klettern aus den Bussen. Es sind Schülerinnen aus verschiedenen Ländern, die von unseren Kindern mit großem Hallo empfangen werden. Auch sie wollen eine Hauswand mit bunten Figuren verzieren und außerdem mit den Kindern tanzen und spielen und zeigen, dass Emma Willard ihnen ein wichtiges Vorbild ist. Ihr Portrait haben sie dabei und halten es hoch als sie sich zum Gruppenfoto versammeln.

10. März

Dominique Leutwiler traf im Poloclub von Pattaya Harald Link, den Besitzer, und sprach mit ihm über die Weiterentwicklung des Projektes „Ausbildung zum Pfer­depfleger“. Link, zunächst abgelenkt durch Anrufe und all das, was die Aufmerk­samkeit eines Managers eines großen Unternehmens, der den Club als Hobby betreibt, so eben noch ablenken kann, erfasste plötzlich die für Thailand singuläre Anlage und den Wert des Projektes und war begeistert. Jetzt soll es zusammen weitergehen.

Überall im Clubhaus Fotos, auch solche von den beiden englischen Prinzen Harry und William, die hier Polo gespielt haben. Die Nachfragen nach Pferdepflegern, die Karriere machen können, ist viel größer als sie gegenwärtig von unserem Projekt erfüllt werden kann. Also ist Ausbau angesagt.

Harald Link fragte, ob wir Pferde auf dem Farmgelände haben. Nein, haben wir nicht. Er sagte, na, dann würde er ein paar Pferde zu uns schicken, und wir könnten die Kin­der frühzeitig an die Tiere gewöhnen. Chanmongkol freut sich schon darauf, einen Teil des Geländes in eine Ranch zu verwandeln oder mit einem Nachbarn zusammen­zuarbeiten.

Das Projekt „Ausbildung zum Pferdepfleger“ verursacht Kosten. Auf dem Weg zu einem Memorandum of Understanding werden wir überlegen, wie wir uns die Investitionen von den Abnehmern zurückholen und den Gemeinkostenanteil zugunsten der School for Life so definieren, dass mehr gedeckt wird als nur die Kosten.

12. März

Der Vizegouverneur der Provinz Chiang Mai, Pairoj Sangpoowong, wollte gern kommen, musste aber ausgerechnet heute zur verfassungsgebenden Versammlung nach Bangkok. Der Vorstand der School for Life Foundation tagt im Farmhaus der School for Life. Anwesend sind Chamnang Chanruang, Gouverneur von 65 Rotary Clubs in Nordthailand und Senior Legal Expert am Verwaltungsgerichtshof von Chiang Mai, Mary Kelly in Vertretung ihres erkrankten Mannes Matthew, der früher bei den „Greatful Dead“ spielte und heute der Amicus Foundation vorsteht, Prof. Dr. Apichai Puntasen, der Direktor des Rural & Social Management Institute under Royal Patronage in Bangkok, Siriporn Hanfaifa, Schuldirektorin, Dominique Leutwiler, General Manager, und ich. Auch Manoon Kalapat und Chanmongkol Trisri sind als Sachverständige mit dabei.

Wir diskutieren die Schulentwicklung, die Finanzen, die neue Leitungsstruktur und die langfristige Sicherung der School for Life. Ich gebe bekannt, dass im nächsten Jahr die School for Life zehn Jahre alt wird und ich 75 Jahre alt werde, und dass ich mich Ende 2013 aus allen operativen Angelegenheiten zurückziehen und mich nur mehr mit vergnüglichen Angelegenheiten der pädagogischen Innovation befassen wolle. Und dass es deshalb Sinn mache, bis zu diesem Zeitpunkt eine Vereinigung der Förderer der School for Life zu gründen, die die Existenz des Projektes langfristig sichert, Förderer, die zur Hälfte aus Thailand und zur anderen Hälfte aus Deutschland und der weiten Welt kommen.

13. März

Tag des Abschieds, Tag der Freude, Tag der Wehmut: Graduation Day. Die Absol­venten der 9. Klasse werden verschiedene Wege einschlagen: Richtung Senior High School im nahen Doi Saket, Richtung Technical College in Chiang Mai oder in Rich­tung einer beruflichen Ausbildung. Die meisten bleiben während der nächsten drei Jahre bei uns, entweder indem sie täglich hin- und herfahren und weiter auf dem Campus wohnen oder wie die angehenden Pferdepfleger ein Stadthaus beziehen und dort von uns weiter betreut werden.

Um 9:00 Uhr versammeln sich alle im inzwischen von den Bangladeshis buntbemal­ten Seminarhaus. Die ‚Graduates‘ bekommen Blumen an das Revers geheftet. Anspra­chen, Tänze, Gelächter – und Tränen, nicht nur bei den Kindern. Der Schulsprecher muss seine Rede abbrechen, weil ihm die Augen übergehen. Er spricht von der glücklichen Zeit, die er hier gehabt habe und sagt, wenn aus ihm etwas geworden sei, wolle er wiederkommen und der School for Life zur Seite stehen. Ich glaube auch, dass aus den ersten Generationen der School for Life-Absolventen einige besonders fähige als Lehrer zu uns zurückkommen wollen. Wir werden sie wie alle Ehemaligen sehr willkommen heißen.

Nun, da die Veranstaltung ihrem Ende entgegengeht, bekommen alle Absolventen der Junior High School ihre Dokumente feierlich überreicht. Und dann wird einem besonders schönen Brauch gefolgt: Alle Erwachsenen binden den Graduierten kleine weiße Bänder um das Handgelenk und wünschen alles Gute. Viele Umarmungen und wieder Tränen.

Die wunderschönen Blumengestecke werden ins Freie auf den Sportplatz getragen: Gruppenfoto. Die Kameras klicken. Die Gesichter strahlen wieder. Am Abend dann eine Grillparty vor dem Farmhaus mit den gefeierten Absolventen und Lehrern. Eine Leinwand ist aufgestellt, Texte spulen auf ihr ab, und die Karaoke-Gesänge tönen noch bis tief in die Nacht hinein.

Danach Stille. Nein. Ein Hund, der jede Nacht offenbar Gespenster sieht, fängt wie wild zu kläffen an. Kein anderer Hund bellt mit. Die anderen wissen schon, dass dieser Hund nicht ganz bei Trost ist.

15. März

Am späten Abend zuvor hat ein kurzer, heftiger Gewittersturm die Blätter von den Bäumen gefegt, Zweige heruntergerissen, ein Dach abgehoben und einen Baum gefällt. Für vierzehn Stunden ist kein Strom da. Niemand leitet am Morgen die Aufräumarbeiten, jeder hat seinen Bereich und weiß, was zu tun ist.

Die Ferienzeit beginnt. Viele Kinder machen sich auf den Weg in ihre Dörfer, andere werden von Lehrern in deren Dörfer mitgenommen, wieder andere bleiben auf der Farm.

Die Schul- und die Familienlehrer versammeln sich und gründen vierköpfige Teams: Team A für den Kindergarten, Team B für die Klassen eins bis drei, Team C für die Klassen vier bis sechs der Grundschule und Team D für die Klassen sieben bis neun der Junior High School. Jedes Team betreut zugleich eine Familie mit Kindern. Vier und nicht wie bisher zwei Pädagogen übernehmen die Rolle von Eltern. Jedes Team trägt Verantwortung für schulisches und außerschulisches Leben. Die Lehrer wollen die Bildung von Subkulturen – hier der Schul- und dort der Familienbereich – überwinden. Mir gefällt diese Integration. In der Internatslandschaft findet man entweder die Struktur ‚Schule‘ versus ‚Internat‘ mit Lehrern und Mentoren oder die Figur ‚Schullehrer und Mentor in einer Person‘. Das hatten wir auch mal, aber diese Praxis führte zur Überlastung der Lehrer und zu weniger Zeit für die Unterrichtsvorbereitung.

Das Modell der Integration beider Bereiche wird im nächsten Semester erprobt werden, und eine seiner Chancen besteht darin, dass wir dann die übliche Tageseinteilung – vormittags Unterricht, nachmittags Projekte und andere Aktivitäten – durchbrechen können zugunsten eines Rhythmus, der nicht nur kindgemäßer, sondern von der Sache her naheliegender ist: Es macht Sinn, sich am kühleren Morgen oder Spätnachmittag der organischen Landwirtschaft zu widmen und am übrigen Tag Schul-, Projekt- und freie Zeiten so zu mischen, das keine starre Routine eintritt.

Die Lehrer sind sehr zufrieden mit ihrer Teambildung. Gegen Ende des Treffens üben die alten mit den neuen Lehrern die beiden School for Life-Lieder ein und zeigen ihnen, was wir unter „make power“ verstehen. Wir bilden einen engen Kreis, legen zur Mitte hin die Hände übereinander, zählen bis drei und reißen die Arme mit einem kräftigen „School for Life-yeah!“ hoch. Wir machen das seit neun Jahren so.

Um 17:30 Uhr beginnt die Abschlussparty für alle Mitarbeiter im Freien vor dem Farmhaus. Grill, Tanz und Karaoke. Die Stimmung ist ausgelassen. Chanmongkol sinniert mit Sampan darüber, wie er Brauchwasser klären und zur Bewässerung einsetzen kann. Der Fahrer Tub findet, dass er eigentlich ein bisschen mehr Gehalt brauche, weil er, wenn er unterwegs sei, das Essen selbst bezahlen müsse. Die Köchin tanzt Rock’n Roll. Ein halber Mond steht am Himmel. Auch gegen Mitternacht singen Hartnäckige immer noch weiter. Irgendwann in der Nacht wird alles aufgeräumt. Es geht blitzschnell. Und dann ist Ruhe.

Nein, nicht ganz. Der Hund, der Gespenster sieht, fängt wieder an zu heulen. Kein anderer Hund macht mit. Nur ein Frosch. Den hat der stürmische Regen zu früh aus seinem Erdloch gelockt. Nun quakt und lockt er vergeblich. Kein anderer Frosch antwortet. Der Hund, der Gespenster sieht, und der einsame Frosch sind ein ungleiches Paar in der Nacht vor dem Tag, an dem ich meine Sachen packe und in den Süden aufbreche, zur anderen School for Life.